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Ein Beitrag von Dr. Friederike Riesch, Abteilung Graslandwissenschaft, Uni Göttingen


Wo Rothirsche die Landschaft pflegen: Offenlandmanagement auf dem Truppenübungsplatz Grafenwöhr – für dieses Projekt haben über 3000 Menschen online abgestimmt und es damit zum Sieger im Wettbewerb um das UN-Dekade Projekt des Monats Februar gekürt. Bereits im Oktober 2019 hatte der Bayerische Staatsminister für Umwelt und Verbraucherschutz, Thorsten Glauber, den Partnern des Verbundprojekts die offizielle Auszeichnung als Projekt der UN-Dekade Biologische Vielfalt 2011–2020 übergeben. Damit werden Projekte gewürdigt, die sich in besonders vorbildlicher Weise für die Erhaltung biologischer Vielfalt in Deutschland einsetzen.

Wissenschaftler*innen der Abteilungen Graslandwissenschaft und Wildtierwissenschaften der Universität Göttingen sowie der Abteilung Wildökologie und Jagdwirtschaft der Technischen Universität Dresden und dem Institut für Wildbiologie Göttingen und Dresden e.V. sind der Frage nachgegangen, ob wildlebende Rothirsche zur Pflege und Erhaltung naturschutzfachlich wertvoller Offenlandlebensräume beitragen können. Dazu wurde von 2014 bis 2019 auf dem Truppenübungsplatz Grafenwöhr mit der Unterstützung des Bundesforstbetriebs der Bundesanstalt für Immobilienaufgaben eine umfassende Studie durchgeführt. 

Was steckt dahinter? 

Offene und halboffene Lebensräume sind charakteristische Bestandteile der mitteleuropäischen Kulturlandschaft. Über lange Zeit hinweg wurde diese Landschaft durch eine extensive landwirtschaftliche Nutzung, z. B. durch Beweidung oder Mähen von Grünland, gestaltet. Damit wurde eine wichtige Basis für die heute vorhandene biologische Vielfalt geschaffen. Extensiv genutzte Offenlandlebensräume wie Heiden oder Mähwiesen beheimaten viele seltene und geschützte Tier- und Pflanzenarten. Auf Grund der gravierenden Veränderungen in der Landnutzung in den letzten Jahrzehnten sind solche Lebensräume jedoch selten geworden – und damit auch viele ihrer Bewohner. Aus diesem Grund wird heutzutage mit Hilfe verschiedener Naturschutzmaßnahmen versucht, den Wegfall der historischen Landnutzung zu kompensieren. Allerdings können etablierte Managementkonzepte, wie etwa der Einsatz von robusten Nutztierrassen, insbesondere auf sehr großen oder unzugänglichen Flächen aus praktischen oder finanziellen Gründen nur schwer umgesetzt werden. Ob wildlebende heimische Huftiere ebenfalls das Potential haben, Offenland zu gestalten und zu erhalten, war kaum erforscht worden – bis die Studie auf dem Truppenübungsplatz Grafenwöhr durchgeführt wurde. 

Was wurde gemacht? 

Der Truppenübungsplatz Grafenwöhr liegt in der Oberpfalz im Nordosten Bayerns. Das 230 km2 große Gelände wird seit über hundert Jahren für militärische Zwecke genutzt. Mehr als ein Drittel der Gesamtfläche besteht aus Offenland und mehr als 80 % stehen als FFH- Gebiet unter dem Schutz der europäischen Fauna-Flora-Habitat-Richtlinie. Das Wildtiermanagement des Bundesforstbetriebs ist seit mehreren Jahrzehnten darauf ausgerichtet, den Rothirschbestand in die von Offenland dominierten Kernbereiche des Platzes zu lenken. In diesen Bereichen wird deshalb an nur wenigen Tagen im Jahr gejagt. Außerdem finden die Rothirsche dort attraktive Nahrung, sodass sie das Offenland intensiv nutzen – auch tagsüber.

Rothirsch mit GPS-Sendehalsband

Mit Hilfe von Vegetationserhebungen, Feldexperimenten, Telemetrie und Fernerkundung untersuchten die Wissenschaftler*innen die Vegetationsentwicklung und das Raum-Zeit-Verhalten der Rothirsche in zwei unterschiedlichen Offenlandbereichen auf dem Truppenübungsplatz. Über einen Zeitraum von 5 Jahren wurdeninsgesamt 44 Rothirsche mit GPS-Sendehalsbändern ausgestattet, womit einmal pro Stunde der Aufenthaltsort der Tiere erfasst wurde. Um die Bewegungsdaten der Rothirsche beispielsweise in Abhängigkeit von der Futterqualität zu interpretieren, wurden verschiedene Lebensraummodelle erstellt. Da viele Bereiche des Truppenübungsplatzes nicht zugänglich sind, wurden dafür Fernerkundungsdaten herangezogen, die mit lokalen Vegetationserhebungen validiert wurden. 

Um den konkreten Einfluss der Rothirsche auf die Vegetation zu untersuchen, wurden über drei Jahre hinweg Experimente in zwei FFH-Lebensraumtypen („Magere Flachlandmähwiesen“ und „Trockene europäische Heiden“) durchgeführt. Ausgezäunte Kontrollflächen, zu denen die Rothirsche keinen Zugang mehr hatten, vermittelten einen Eindruck davon, wie die Vegetation ohne die Beweidung der wildlebenden Pflanzenfresser aussehen würde. Außerdem wurde mit Hilfe von temporären Weidekörben festgestellt, wie viel pflanzliche Biomasse von den Rothirschen tatsächlich abgeweidet wurde. Gleichzeitig wurde in den Mähwiesen auch untersucht, wie sich Feuer und Mahd auf die Vegetation auswirken. Auf diese Weise wurde ausgelotet, welche Möglichkeiten zur räumlichen Steuerung der Rothirschbeweidung bestehen, indem Wechselwirkungen zwischen zusätzlichen Maßnahmen zum Flächenmanagement und der Beweidung durch Rothirsche ausgenutzt werden. 

Temporärer Weidenkorb

Insgesamt lieferte das Projekt nicht nur eine umfangreiche Datengrundlage zu Habitatnutzung und -gestaltung wildlebender Rothirsche im Offenland, sondern zeigte auch eindrücklich, dass sich die Rothirschbeweidung förderlich auf die Vegetationsentwicklung und Biodiversität geschützter Offenlandlebensraumtypen auswirkt. Auf dieser Basis konnten praktische Hinweise entwickelt werden, wie Rothirsche als heimische Pflanzenfresser in die Landschaftspflege eingebunden werden können, um zum Erhalt wertvoller Offenlandlebensraumtypen in großen Gebieten beizutragen. 

Was bedeutet das in der Praxis?

Ein besonderer Schwerpunkt des Projektes lag darin, praktische Ansatzpunkte zur Einbindung von Rothirschen als heimische Pflanzenfresser in die Landschaftspflege großer Gebiete mit hohem Offenlandanteil zu entwickeln. Es wurde gezeigt, dass durch Mähen oder Mulchen von Grünlandflächen das Ressourcenangebot für die Rothirsche beeinflusst werden kann. Zusammen mit einem angepassten Wildtiermanagement kann auf diese Weise die Lebensraumnutzung und damit die Fraßeinwirkung der Rothirsche räumlich und zeitlich gesteuert werden. Das Projekt verdeutlicht, dass Beweidung durch Wildtiere eine Möglichkeit bietet, naturnahe Offenlandlebensräume auch in sehr großen oder unzugänglichen Gebieten zu erhalten, wo herkömmliche Landschaftspflegemaßnahmen nicht umgesetzt werden können. 

Was sind die zentralen Erkenntnisse des Projekts?

Rothirsche leisten einen deutlichen Beitrag …

… zur Erhaltung von Offenlandschaften.

… zum Erhalt geschützter Lebensräume.

… zum Erhalt und zur Verbreitung seltener Arten.

Wie geht es weiter? 

Man kann davon ausgehen, dass Wildtierbeweidung im Naturschutz gegenüber herkömmlicher Nutztierbeweidung an Bedeutung gewinnen könnte. Grund dafür ist die Rückkehr des Wolfes, der die Haltung von Weidetieren vor neue (alte) Herausforderungen stellt. Auch auf dem Truppenübungsplatz Grafenwöhr gibt es seit wenigen Jahren wieder Wölfe. Damit eröffnet sich für die Wissenschaftler*innen ein neues Forschungsfeld. Im aktuellen Projekt „WeideWildWolf“ (www.weidewildwolf.de; Website im Aufbau) wird über weitere fünf Jahre untersucht, wie sich die Wechselwirkungen zwischen den wildlebenden Pflanzenfressern und der Vegetation verändern, wenn der Wolf als Beutegreifer mit ins Spiel kommt. Die Wissenschaftler*innen wollen die Lebensraumnutzung des Wolf in der Kulturlandschaft analysieren, Auswirkungen auf natürliche Beutetiervorkommen feststellen und Folgen für die regionale Land- und Forstwirtschaft abschätzen.

Wo gibt es mehr Infos?

Bisherige wissenschaftliche Veröffentlichungen aus dem Projekt 

Raab, C., Riesch, F., Tonn, B., Barrett, B., Meißner, M., Balkenhol, N., & Isselstein, J. (2020). Target-oriented habitat and wildlife management: Estimating forage quantity and quality of semi-natural grasslands with Sentinel-1 and Sentinel-2 data. Remote Sensing in Ecology and Conservation. https://doi.org/10.1002/rse2.149

Raab, C., Stroh, H. G., Tonn, B., Meißner, M., Rohwer, N., Balkenhol, N., & Isselstein, J. (2018). Mapping semi-natural grassland communities using multi-temporal RapidEye remote sensing data. International Journal of Remote Sensing39(17), 5638–5659. https://doi.org/10.1080/01431161.2018.1504344

Raab, C., Tonn, B., Meißner, M., Balkenhol, N., & Isselstein, J. (2019). Multi-temporal RapidEye Tasselled Cap data for land cover classification. European Journal of Remote Sensing52(1), 653–666. https://doi.org/10.1080/22797254.2019.1701560

Richter, L., Balkenhol, N., Raab, C., Reinecke, H., Meißner, M., Herzog, S., Isselstein, J., & Signer, J. (2020). So close and yet so different: The importance of considering temporal dynamics to understand habitat selection. Basic and Applied Ecology43, 99–109. https://doi.org/10.1016/j.baae.2020.02.002

Riesch, F., Stroh, H. G., Tonn, B., & Isselstein, J. (2018). Soil pH and phosphorus drive species composition and richness in semi-natural heathlands and grasslands unaffected by twentieth-century agricultural intensification. Plant Ecology & Diversity11(2), 239–253.

Riesch, F., Tonn, B., Meißner, M., Balkenhol, N., & Isselstein, J. (2019). Grazing by wild red deer: Management options for the conservation of semi-natural open habitats. Journal of Applied Ecology56(6), 1311–1321. https://doi.org/10.1111/1365-2664.13396


Die Studie wurde aus Mitteln des Zweckvermögens des Bundes bei der Landwirtschaftlichen Rentenbank finanziert und von der Bundesanstalt für Landwirtschaft und Ernährung fachlich begleitet.

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